Veranstaltung DGB Stuttgart am 20. Mai 2021
Ich habe vor ziemlich genau einem Jahr einen Vortrag für den Förderverein Deutsch-Französischer Kultur in Stuttgart über 150 Jahre Deutsch-Französischer Krieg von 1870/71 vorbereitet. Damals war mir ziemlich schnell klar, wie das Ganze zu beurteilen sei:
Zwei skrupellose Staatsführer entfesselten in ihrer imperialen Gier einen brutalen Krieg. Der eine war krank, nicht besonders klug und sein Militär war schlecht vorbereitet – Napoleon III., Kaiser von Frankreich. Der andere – der preußische Ministerpräsident Bismarck – verfügte über eine besser organisierte Armee und war hoch intelligent und gerissen. Schnell zeigte sich, dass Preußen und seine süddeutschen Verbündeten Frankreich militärisch überlegen waren. Trotzdem waren sie nicht bereit, einen milden Frieden abzuschließen. Die Deutschen beendeten den Krieg erst, als Frankreich am Boden lag und hohe Verluste erlitten hatte. Durch den harten Friedensvertrag, der Frankreich das Elsass und Teile von Lothringen wegnahm und dem Land hohe Reparationszahlungen auferlegte, wurde es noch zusätzlich geschwächt. Welche bösen Folgen diese kurzsichtige Politik hatte, zeigte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Jetzt geht es um 150 Jahre Pariser Commune, und ich gestehe, dass ich auch nach intensiver Beschäftigung mit dem Thema immer noch danach suche, wie das Geschehen des Frühjahrs 1871 in wenigen Worten zu beschreiben und zu beurteilen sei. Aber wahrscheinlich ist das gar nicht möglich.
In der Commune gab es großartige Initiativen, Heldentum, chaotische Desorganisation und Böses, helle menschliche Fixsterne, Planeten - in altmodischem Deutsch 'Wandelsterne' - und schwarze Löcher.
Also es hilft nichts, wer eine Haltung zur Commune finden will, muss sich mit den vielen einzelnen Ereignissen und Beteiligten beschäftigen, mit den unterschiedlichen Facetten dieses ersten Versuchs der Menschheit, eine demokratische und soziale Ordnung zu errichten.
Einfacher ist die Beurteilung der Gegenseite. Bismarck schreibt in seinen Memoiren 'Gedanken und Erinnerungen' nur an einer Stelle über die Commune. Dort räsoniert er zunächst darüber, dass es seiner Ansicht nach richtig gewesen wäre, Paris nicht erst bis Januar 1871 zu belagern, sondern schon im Herbst 1870 anzugreifen und zu erobern; so hätte man der Pariser Bevölkerung den Hungerwinter ersparen können, schreibt er. Schließlich fragt er rhetorisch, „... ob die Greuel der Commune zum Ausbruch gekommen sein würden, wenn nicht die Hungerzeit das Freiwerden der anarchischen Wildheit vorbereitet hätte“?
Das kurze Zitat vereinigt sämtliche Vor- und Falschurteile der Feinde der Commune. Dies waren einmal natürlich die Monarchisten in Deutschland, aber auch in Frankreich, wo sie in den französischen Wahlen Anfang Februar 1871 eine starke Mehrheit errungen hatten. Und dann dachte auch das rechte Bürgertum wie Bismarck: Commune gleich “Greuel“ und „anarchische Wildheit“.
Beide Begriffe sind unzutreffend. In Wirklichkeit entstand die Commune im März 1871 nicht durch Gewalt. Dass gleich zu Beginn zwei gegnerische Generäle aus einer aufgebrachten Menge heraus erschossen wurden, war ein spontaner Akt und nicht geplant. Aber natürlich wurde der Tod von Clément Thomas und Claude Lecomte von den Gegnern der Commune benutzt, um massiv Stimmung zu machen.
Auf jeden Fall waren Gewaltbereitschaft und Brutalität aufseiten der Gegner der Commune weitaus stärker ausgeprägt als bei den Kommunarden, das wurde spätestens im Mai und Juni 1871 deutlich.
Und auch von anarchischer Wildheit kann nicht die Rede sein. Den Mitgliedern der Commune gelang es, die Verhältnisse in Paris von Ende März bis zur blutigen Woche Ende Mai 1871 ziemlich gut zu organisieren und ein einigermaßen geordnetes Leben zu ermöglichen.
Wer sich mit der Commune beschäftigen will, findet viel Literatur. Ich habe einige Bücher zusammengestellt, die ich wichtig und interessant finde.
Vor allem hat mich aber interessiert, welche Autorinnen und Autoren selbst an der Commune teilgenommen und ihre Erfahrungen aufgeschrieben haben.
Da gibt es einmal die berühmten Memoiren von Louise Michel, einer Kommunardin an vorderster Front. Im letzten Herbst ist eine neue deutsche Übersetzung erschienen. Das Buch ist detailreich, spannend geschrieben; manchmal fand ich es etwas agitatorisch, aber das mag meinem subjektiven Geschmack geschuldet sein.
Dann gibt es „Geschichte der Kommune von 1871“ von Prosper Lissagaray aus dem Jahr 1876. Lissagaray charakterisierte sich selber als zur Gruppe der bürgerlichen Demokraten gehörig, der sogenannten Neo-Jakobiner. Nach dem Ende der Commune floh er nach London, wo er Karl Marx kennen lernte. Marx regte ihn dazu an, seine Erfahrungen aufzuschreiben; zeitweilig war er mit Marx' Tochter Eleanor verlobt.
Schließlich hat Pjotr L. Lawrow seine Erfahrungen in Paris aufgeschrieben: „Die Pariser Kommune, Geschehnisse - Einfluss – Lehren“ von (1879). Lawrow wurde als russischer Revolutionär in den Ural deportiert. Von dort gelang ihm 1870 die Flucht nach Paris, wo er der Internationalen Arbeiterassoziation beitrat, einer Organisation, die neben anderen von Karl Marx gegründet worden war.
Obwohl Lawrow große Sympathie für die Commune empfand, betrieb er keinen Heldenkult. Er schreibt: „Ich weiß ganz genau, dass man in der Geschichte keine Götzenbilder haben darf. Und dass auch revolutionäre Götzenbilder immer nur die erbärmlichsten Auswirkungen hatten (…). Ich bin auch sehr weit davon entfernt, diese Kommune in meiner kurzen Skizze den revolutionären Sozialisten auf einem Altar zu präsentieren. Mein Hauptziel ist es, (…) aus ihrem Verlauf praktische Lehren zu ziehen.“
Vorgeschichten
In der Mitte des vorletzten Jahrhunderts war Frankreich nach England das entwickeltste Land der Welt. Es hatte eine starke Industrie, eine starke Armee, eine zentrale Regierung und Verwaltung, und der Großteil des Landes war bereits durch Eisenbahnlinien erschlossen. In den größeren Städten bildete sich eine selbstbewusste Arbeiterschaft. Paris war nach London die größte und modernste Stadt der Welt. Auf der anderen Seite waren die ländlichen Regionen noch wenig entwickelt, die Bevölkerung von „la France profonde“ – dem tiefen Frankreich - war vielfach noch in vormodernen Verhältnissen und Vorstellungen gefangen.
Man kann wohl feststellen, dass das Regime von Napoleon III. eine Antwort auf diese Gegensätze und Brüche war. Der Neffe des „großen“ Napoleon war 1848 durch eine bürgerliche Revolution an die Macht gekommen und zum Präsidenten der 2. französischen Republik gewählt worden. Schon damals hatten die Pariser Arbeiter einen großen Anteil an der Revolution, wurden aber massiv unterdrückt, als sie auf der Erfüllung ihrer Forderungen beharrten.
Drei Jahre darauf, im Dezember 1851, verwandelte Napoleon die Republik durch einen Staatsstreich in das 2. französische Kaiserreich, eine autoritäre Monarchie, und machte sich selber zum Kaiser. Das 2. Kaiserreich wurde durch das Großbürgertum und vor allem durch die Landbevölkerung unterstützt.
Außerdem punktete Napoleon bei allen Chauvinisten durch seine expansionistische Außenpolitik. Es gelang ihm, Frankreich auf Kosten Italiens zu vergrößern. Gleichzeitig verschärften sich aber auch die sozialen Gegensätze. Karl Marx hat diese Entwicklung in seinem Aufsatz „der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ intensiv beleuchtet.
Ende der 1860er Jahre stieg der innenpolitische Druck und Napoleon machte verschiedene Manöver, um den Deckel auf dem Topf zu halten. Sie gipfelten in der Kriegserklärung an Preußen und den Norddeutschen Bund am 19. Juli 1870 (und Napoleon merkte gar nicht, dass er Bismarck damit einen großen Gefallen tat).
Die innere Situation Frankreichs war zu Beginn des Jahres 1870 sehr angespannt. Im Januar gab es anlässlich der Beerdigung eines jungen Journalisten eine große Demonstration. Nicht viel hätte gefehlt und daraus wäre ein Aufstand geworden.
Der etwas verwickelte Hintergrund: ein Verwandter Napoleons hatte Henri Rochefort, den Herausgeber der linken Zeitung „Marseillaise“, zum Duell gefordert. Er wartete auf die Sekundanten Rocheforts, stattdessen erschien ein junger Mitarbeiter der „Marseillaise“, um ihm die Duellforderung eines anderen Journalisten zu überbringen. Es gab einen Wortwechsel und eine Auseinandersetzung und der jähzornige Pierre Bonaparte zückte eine Pistole und erschoss Victor Noir.
Zu dessen Beerdigung im Pariser Vorort Neuilly versammelte sich eine riesige Menschenmenge. Danach strömte sie über die Avenue de la Grande-Armée ins Stadtzentrum zurück, die Stimmung war aufgeheizt. Schließlich wurden die Demonstranten auf den Champs-Champs-Elysées von einem Truppenaufgebot aufgehalten und zerstreut, zahlreiche wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Der Todesschütze Pierre Bonaparte dagegen wurde freigesprochen.
Am 19. Juli 1870 erklärte Napoleon Preußen und dem Norddeutschen Bund den Krieg. Er rechnete nicht damit, dass sich die süddeutschen Länder Preußen anschließen würden und hoffte, schnell über das Maingebiet nach Berlin vorstoßen zu können. Aber der Feldzug gegen den Konkurrenten Preußen geriet zum Desaster. Am 2. September kapitulierte eine französische Armee, bei der sich Napoleon befand, im Städtchen Sedan an der belgischen Grenze. Der französische Kaiser kam daraufhin in preußische Kriegsgefangenschaft.
Zwei Tage später, am 4. September, wurde in Paris die Republik ausgerufen. Die herausragenden Köpfe der neuen Staatsspitze waren der liberale Jules Favre als Außenminister - Karl Marx hat ihn als notorischen Erbschleicher charakterisiert, der linke Léon Gambetta als Innenminister und der
napoleonische General Louis Jules Trochu als Vorsitzender der „Regierung der nationalen Verteidigung“. Er hatte zur Bedingung für seine Beteiligung gemacht, dass dem sozialen Umsturz eine deutliche Absage erteilt werden müsse.
Obwohl Innen- und nicht Kriegsminister war Gambetta für die Verteidigung verantwortlich. Er propagierte den Krieg bis zum Äußersten, und es gelang ihm tatsächlich, viele neue, allerdings unerfahrene, junge Soldaten zu mobilisieren. Aber alle Anstrengungen konnten die Übermacht der deutschen Truppen nicht brechen. Am 18. September schlossen sie Paris ein, das von einem starken Festungsgürtel umgeben war. Damit begann die Hungerblockade – die Belagerer ließen keine Lebensmittel in die Stadt. Die Blockade dauerte bis Januar 1871 und kostete 50 000 Parisern das Leben.
Am 28.Oktober 1870 kapitulierte eine weitere französische Armee, die bis dahin die Festungsstadt Metz verteidigt hatte. 150 000 französische Soldaten kamen in deutsche Kriegsgefangenschaft. Dann erlitt die Pariser Nationalgarde zusammen mit Freischärlern eine Niederlage gegen deutsche Truppen im Norden von Paris beim Dorf Le Bourget (dort befindet sich heute der Großflughafen Charles de Gaulle.) Die Nationalgarde war eine Volksmiliz und hatte ihre Wurzeln in der französischen Revolution von 1789. 1870 waren rund 300 000 Pariser Mitglied der Nationalgarde; ihre Aufgabe war es, die Hauptstadt zu verteidigten.
Schließlich hieß es auch noch, es sollten Waffenstillstandsverhandlungen aufgenommen werden, woraufhin Demonstranten am 31. Oktober das Rathaus besetzten, in dem gerade die Regierung tagte. Sie forderten die entschlossene Verteidigung der Stadt und die Commune. Vereinzelt war die Forderung nach der Commune als Selbstverwaltung schon vorher erhoben worden. Paris wurde nämlich von Präfekten regiert, die von der Regierung eingesetzt waren. Zwar wurde nach dem Sturz Napoleons im September 1870 ein Bürgermeister berufen, aber es gab keine Strukturen der Selbstverwaltung. Am Abend des 31. Oktober wurde die Regierung von einem Bataillon der Nationalgarde befreit, obwohl die Mehrheit der Nationalgardisten mit den Aufständischen sympathisierten. Aber dieses Bataillon bestand aus Soldaten aus der Bretagne. Als Trostpflaster organisierte die Regierung Anfang November Wahlen in den Pariser Arrondissements. Gewählt werden konnten die Bezirksbürgermeister und jeweils drei Stellvertreter.
Im Winter verschlechterte sich die Lage, nicht nur im hungernden Paris. Im
ganzen Land gerieten die französischen Truppen in die Defensive.
Schließlich begannen die deutschen Militärs an der Jahreswende 1870/71 mit der Beschießung der Hauptstadt. Ein Ausfall der Verteidiger am 19. Januar 1871 scheiterte, daraufhin bat die französische Regierung Bismarck um Waffenstillstandsverhandlungen.
Am 22. Januar kam es erneut zu einer großen Demonstration vor dem Pariser Rathaus. Diesmal unterstützte ein Bataillon der Nationalgarde die Demonstranten. Ein Nationalgardist gab einen Schuss ab, Angehörige der sogenannte Mobilgarde, die das Rathaus bewachte, erwiderten das Feuer. Die Menge stob auseinander und auf dem Platz vor dem Rathaus blieben mehrere Tote zurück, darunter ein Kind. Es gab 20 Verletzte, 80 Demonstranten wurden verhaftet.
Am 28. Januar unterzeichneten Jules Favre und Otto von Bismarck den Waffenstillstand im deutschen Hauptquartier in Versailles. Er legte die Übergabe eines Teils der Festungen an die Deutschen fest, die Stadt selbst blieb mit Ausnahme von zwei Arrondissements im Südwesten unbesetzt und die Nationalgarde wurde nicht entwaffnet. Der Waffenstillstand sollte zunächst drei Wochen dauern und in dieser Zeit sollten Wahlen in ganz Frankreich durchgeführt werden. Diese fanden schon am 8. Februar statt. Die Monarchisten gewannen die Wahl mit großer Mehrheit, „Chef du pouvoir exécutif“ wurde Adolphe Thiers.
Am 26. Februar unterzeichnete die neue französische Regierung den Vorfrieden, der Frankreich die Abtretung von Elsass-Lothringen und eine Reparationszahlung von 5 Milliarden Goldfranken auferlegte.
Der Aufstand
Die emsige Regierung Thiers und das nationale Parlament, das in Versailles tagt, wollen jetzt keine Zeit verlieren und die Ordnung in ihrem Sinn wiederherstellen. Am 10. März 1871 werden verschiedene kriegsbedingte Erleichterungen für die Bevölkerung zurückgenommen: Die Leihhäuser können jetzt wieder nicht rechtzeitig ausgelöste Pfandstücke verkaufen, wodurch viele arme Familien Teile ihres Hausstands verlieren. Ebenso wird das Schuldenmoratorium aufgehoben, was Tausende von Insolvenzen nach sich ziehen wird. Die Hausbesitzer dürfen gestundete Mieten eintreiben, was für Tausende Mieter Verschuldung und Obdachlosigkeit bedeutet, und schließlich sollen nur noch bedürftige Nationalgardisten den Tagessold von 1,50 Francs erhalten.
Am 15. März kehrt die Regierung Thiers nach Paris zurück. Am selben Tag wählen die Delegieren von 215 Bataillonen der Pariser Nationalgarde, die sogenannte Föderation der Nationalgarde, ein Zentralkomitee. Nur 55 Bataillone verweigern ihre Beteiligung. In den 'unsterblichen Grundsätzen der Föderation' heißt es: „Die französische Republik zuerst, dann die Weltrepublik. Keine stehenden Heere, sondern die Nation in Waffen (… ). Keine Könige, keine Herren, keine ernannten Vorgesetzten, sondern verantwortliche und absetzbare Funktionäre ... .“
Für den 18. März beschließt die Regierung Thiers, die Geschütze der Nationalgarde sicherzustellen. Die reguläre Armee soll sie beschlagnahmen und wegbringen. Dazu muss man wissen, dass die Nationalgarde während der deutschen Belagerung von Paris viele Geschützrohre gießen ließ. Dafür wurde zu Spendenaktionen aufgerufen, die auch der berühmte Dichter Victor Hugo unterstützte. Abgesehen davon hatte die Nationalgarde in den Nachkriegswirren Kanonen der regulären Armee an sich gebracht. Mit der Begründung, sie vor den deutschen Besatzern in Sicherheit zu bringen, wurden sie an verschiedenen Plätzen innerhalb der Stadt zusammengezogen; viele auf dem Montmartre und auf dem Hügel Buttes-Chaumont im Osten der Stadt.
Als sich am frühen Morgen des 18. März reguläre Einheiten, oft unter Führung alter napoleonischer Vorgesetzter, daran machen, die Geschütze wegzuschaffen, bemerken das zunächst vor allem Frauen aus dem Volk, die schon früh unterwegs sind. „Was macht Ihr da?“, fragen sie die Soldaten, dann erfahren auch die Pariser Männer, was los ist, viele sind Mitglieder der Nationalgarde. Demonstranten stellen sich den regulären Einheiten entgegen, es sind viele Frauen dabei, oft mit ihren Kindern an der Hand. Schließlich laufen reguläre Soldaten zur Nationalgarde über, die inzwischen Front gegen die regulären Einheiten macht.
Abgesehen vom Widerstand der Bevölkerung spielt aber eine große Rolle, dass die regulären Truppen viel zu wenig Pferdegespanne mitgebracht haben, um die Kanonen abzutransportieren - das Unternehmen geht aus wie das Hornberger Schießen.
Am Montmartre kommt es dann zu dem berüchtigten Zwischenfall: Der ehemalige Chef der Nationalgarde, Thomas, der zur Regierung Thiers hält, ist in Zivil auf dem Montmartre unterwegs, um sich ein Bild von den Geschehnissen zu machen. Er wird entdeckt, gefangen genommen und später zusammen mit dem General Lecomte von der aufgebrachten Menge erschossen. Nationalgardisten versuchen noch, die beiden Gefangenen zu schützen – vergeblich.
Lecomte sollte den Abtransport der Geschütze vom Montmartre leiten und hat am Morgen Soldaten eines Regiments befohlen, das Feuer zu eröffnen. Die haben aber den Befehl verweigert und sich mit der anrückenden Nationalgarde verbrüdert.
Im Laufe des 18. März werden Barrikaden errichtet, das Rathaus wird besetzt, die Nationalgarde übernimmt die Macht in der Hauptstadt.
Thiers und seine Regierung setzen sich nach Versailles ab und verordnen, dass höhere und mittlere Verwaltungsbeamte und die regulären Truppen ihnen folgen müssen.
Das ist die große Stunde des Zentralkomitees der Nationalgarde, aber ist es darauf vorbereitet? Der Schriftsteller Edouard Auguste Moreau, der während der deutschen Belagerung in der Nationalgarde gekämpft hat und Mitglied des Zentralkomitees ist, schreibt: „Wir wollten nicht das Rathaus besetzen, wir wollten Barrikaden bauen. Wir waren über unsere Macht verwirrt“.
Das Zentralkomitee der Nationalgarde besteht großteils aus Unbekannten, zumeist einfache Menschen, die keine hochfahrenden Pläne haben. Sie sehen ihre Aufgabe jetzt darin, einigermaßen für Ordnung zu sorgen und Wahlen für einen 'Rat der Commune' zu organisieren. An diesen soll die Macht übergeben werden und er soll das schon länger und immer wieder geforderte Organ der kommunalen Selbstverwaltung werden. Die Wahlen finden eine Woche später, am 26. März statt. Später wird der Rat in 'Commune de Paris' umbenannt, er ist Parlament und Regierung in einem.
Davor gibt es aber noch ein hässliches Intermezzo, als sich am 22. März einige Tausend Bürger unter der Parole „Freunde der Ordnung“ am Opernplatz versammeln. Von dort marschieren sie zur Place Vendôme mit der Siegessäule für Napoleon I., wo sich das Hauptquartier der Nationalgarde befindet. Sie rufen, „es lebe die Ordnung, nieder mit dem Komitee, nieder mit den Mördern!“. Auf der Place Vendôme werden sie mehrmals aufgefordert, sich zu zerstreuen, was sie ignorieren. Daraufhin eröffnet die Nationalgarde das Feuer, dreizehn Demonstranten werden getötet.
Am 26. März ist die Wahl. Von den knapp 500 000 registrierten Wahlberechtigten geben 230 000 ihre Stimme ab, das ist weniger als die Hälfte. Allerdings haben schätzungsweise 80 000 Wahlberechtigte die Stadt inzwischen verlassen, vor allem Bewohner der wohlhabenden Viertel im Zentrum und im Westen der Stadt.
Von den 92 Sitzen können nur 86 besetzt werden, da einige Kandidaten in zwei Wahlkreisen gewählt wurden und einige nicht in Paris sind, zum Beispiel der Dichter Victor Hugo, der nach Brüssel gegangen ist, und Louis-Auguste Blanqui. Die 16 Mitglieder der bürgerlichen Opposition nehmen ihr Mandat nicht an, so dass der Rat zunächst aus 70 aktiven Mitgliedern besteht.
Die Mitglieder des Rats kommen aus den verschiedensten politischen Gruppierungen. Die größte Gruppe des Rats besteht aus Blanquisten, das sind sehr gewaltbereite Berufsrevolutionäre, die sich um ihren Anführer Blanqui scharen. Der ist aber nicht dabei, da er kurz zuvor verhaftet wurde. Dann gibt es Sozialisten, sie sind meist Mitglieder der von Karl Marx mitgegründeten Internationalen Arbeiterassoziation. Schließlich spielen bürgerliche Neo-Jakobiner eine wichtige Rolle, sie berufen sich auf die Revolution von 1789, und dann gibt es auch noch einige Linksliberale. Bei dieser Zusammensetzung des Rats sind heftige Auseinandersetzungen unvermeidlich. Grundsätzlich sind sich die Vertreter der verschiedenen Richtungen nur in einem einig, in der Ablehnung der Monarchie und der Versailler Regierung.
Was aber bis dahin vollkommen unerhört ist: nicht hauptsächlich wohlhabende und Bildungs-Bürger sitzen im Rat der Commune, sondern mehr als ein Drittel sind Handwerker und Arbeiter. Bildungsbürger – Anwälte, Lehrer, Journalisten, Ärzte, ein Ingenieur und ein Architekt – stellen nur die zweitgrößte Gruppe. Außerdem gibt es 5 Unternehmer und zwei Berufsoffiziere. Dagegen besteht das nationale Parlament in Versailles überwiegend aus Großbürgern und Honoratioren. Allerdings sitzt nicht nur im Parlament von Versailles, sondern auch im Rat der Commune keine einzige Frau.
Am 28. März wird die Macht in einer Zeremonie vor dem Pariser Rathaus vom Zentralkomitee der Nationalgarde an den Rat der Kommune übergeben, wobei sich das Zentralkomitee ausdrücklich die letzte Entscheidung in militärischen Fragen vorbehält. Die Entwicklung in Paris strahlt in das Land aus, vor allem in den Süden. In Lyon und Marseille, in der Industriestadt St. Étienne, in Narbonne, Nîmes, Toulouse und Limoges wehen wie in Paris die roten Fahnen auf den Rathäusern; rote Fahnen und Schärpen sind das Zeichen der Commune, die Farben blau, weiß, rot stehen für die Regierung in Versailles.
Allerdings können sich die Revolutionäre im Süden des Landes nicht lange gegen die Versailler Regierung behaupten.
Ein Rückschlag bedeuten die Nachwahlen, die durch den Mandatsverzicht der Bürgerlichen notwendig geworden sind. Sie finden am 16. April statt, die Wahlbeteiligung beträgt nur noch ein Drittel. Da sich nicht für alle Sitze Bewerber gefunden haben, besteht der Rat danach auch nur aus 79 Mitgliedern (statt wie geplant aus 92).
Alltagsarbeit
Die Regierung Thiers hat bei ihrem Abzug nicht nur viele Beamte mitgenommen, sondern teilweise auch die Schlüssel. So müssen die Eingangtüren von 50 Postämtern von Schlossern geöffnet werden, bevor der Betrieb wieder aufgenommen werden kann.
Der Rat der Commune sieht sich also vor die Lösung ganz praktischer Aufgaben gestellt: Müllabfuhr, Straßenbeleuchtung, Markthallen und Märkte, Telegrafen und eben auch die Post müssen wieder in Betrieb genommen und am Laufen gehalten werden; nicht zu vergessen die Münzpresse und die Staatsdruckerei, die die vielen Bekanntmachungen der Commune auf Plakate und im Staatsanzeiger abdrucken muss. Eine riesige Aufgabe ist es auch, die Arbeit der sozialen Dienste, das Funktionieren der städtischen Krankenhäuser zu sichern, nachdem viele Fachleute abgezogen sind.
Es ist ein großes Verdienst der Commune, wenn nicht überhaupt ihr größtes, dass sie bewiesen hat, dass eine solche Institution in der Lage ist, diese Aufgaben zu lösen – trotz der Streitigkeiten, die im Rat ausgetragen werden und teilweise auch zu seiner Lähmung führen. Mit anarchischer Wildheit, wie Bismarck geschrieben hat, wäre das auf jeden Fall nicht möglich gewesen.
Freilich gibt es bei der Ersetzung der Beamten, die nach Versailles abgezogen sind, auch Fehlbesetzungen. Mancher Berufsrevolutionär drängt sich vor und will für sein Engagement durch eine Stelle belohnt werden, erweist sich dann aber als inkompetent. Meistens sind es jedoch einfache, engagierte Leute, bescheiden, namenlos, die alles daran setzen, das Leben in der Stadt aufrecht zu erhalten und zwar auf einem einigermaßen guten Niveau. Und es gelingt ihnen. Es gelingt ihnen, obwohl die Commune die Bezahlung der Beamten und ihrer Räte auf maximal 6000 Francs im Jahr begrenzt. Die meisten bekommen aber wesentlich weniger, nur so viel wie ein gut bezahlter Facharbeiter. In der Verwaltung von Adolphe Thiers betragen die Beamtengehälter zum Teil mehr als das zwanzigfache.
Insgesamt erlässt der Rat der Commune knapp 300 Verordnungen und Verfügungen. Die Beschlüsse der Regierung Thiers zu den Pfandleihanstalten, Krediten, Mieten und zum Sold der Nationalgardisten hat schon die Nationalgarde rückgängig gemacht. Aber auch die meisten Verordnungen des Rats de Commune sind ganz praktischer Natur, wie zum Beispiel das Verbot der Nachtarbeit für Bäcker, die Fixierung der Brotpreise und das Verbot von Geldstrafen und Lohnabzügen, mit denen viele Unternehmer die Löhne und Gehälter gedrückt haben; die meist vorgeschobene Begründung war, der Arbeiter oder Angestellte habe sich etwas zuschulden kommen lassen.
Dem Vorhaben des ungarischen Arbeitsdelegierten Leo Fränkel, von ihren Eigentümern verlassene Werkstätten und Fabriken in Form von Genossenschaften an die Arbeiter zu übergeben, ist allerdings kein großer Erfolg beschieden. Nur ein Dutzend Werkstätten werden als dafür geeignet befunden und beschlagnahmt.
Die Commune muss ihre Aktivitäten und vor allem die in ihrem Dienst Beschäftigten und die Nationalgardisten bezahlen, das ist teuer, trotz der niedrigen Gehälter für Staatsbedienstete und des geringen Tagessolds der Nationalgardisten. Verantwortlich für die Finanzen der Commune sind der Finanzdelegierte Francis Jourde und der Verbindungsmann zur Banque de France, Charles Beslay. Beide bemühen sich, das Finanz- und Steuersystem der Commune korrekt am Laufen zu halten. Jourde tritt entschieden der Korruption in der Verwaltung entgegen, die im Mai 1871 anfängt, virulent zu werden. Im Großen und Ganzen ist seine Arbeit erfolgreich.
In Paris befindet sich die Banque de France. Sie ist keine Staatsbank, sondern rechtlich ein Privatunternehmen, das allerdings im Auftrag des Staates Banknoten ausgibt. Jourde und Beslay schonen die Banque de France, was vor allem Beslay scharfe Kritik einträgt: durch seine Aktivitäten nütze er mehr dem Finanzkapital als der Commune. Er verteidigt sich damit, dass er so die Stabilität der Währung und die Kreditwürdigkeit der Stadt Paris gewährleistet habe. Dieses Argument ist nicht einfach von der Hand zu weisen, da die
Commune darauf angewiesen ist, Kredite zu bekommen. Die Commune bekommt insgesamt 16 Millionen von der Banque de France. Auf der anderen
Seite finanziert die Bank die Versailler Regierung ungestört mit 250 Millionen Francs und trägt damit zum Untergang der Commune bei.
Die Tätigkeit der Delegierten für die allgemeine Sicherheit, Raoul Rigault und seines Nachfolgers (nach einer kurzen Zwischenphase unter dem gemäßigten Frédéric Cournet) Théophil Ferré, wirft einen Schatten auf die Commune. Beide sind Anhänger des Revolutionärs Louis-Auguste Blanqui. Blanqui vertritt das Konzept eines militanten Sozialismus, der durch die straff organisierte Untergrundarbeit weniger Berufsrevolutionäre vorbereitet und durch den bewaffneten Kampf errichtet werden soll. Die Idee der Diktatur des Proletariats ist zentral in seinen Vorstellungen.
Entsprechend neigen Rigault und Ferré zu repressiven Maßnahmen gegen Personen, die sie als Feinde betrachten. Sie ordnen willkürliche und undurchsichtige Festnahmen an. Ein Geruch von Tyrannei und Angst durchzieht die Commune. Entsprechendes gilt für die Beschlagnahmung bestimmter Privatvermögen, die auf der einen Seite berechtigt sein mag, wenn deren Besitzer der Commune direkt schaden. Auch der Beschluss, leerstehenden
Wohnraum Wohnungssuchenden zu überlassen, ist vernünftig und legitim. Auf der anderen Seite kommt es aber auch zu äußerst willkürlichen Maßnahmen.
Besonders unerbittlich verfolgt Rigault Geistliche. Mehr als 300 Pfarrer und Ordensleute werden eingesperrt, darunter der Erzbischof von Paris, Georges Darboy. Auf dessen Frage, warum er verhaftet wurde, antwortet Rigault, „seit 1800 Jahren sperrt ihr uns mit eurem Aberglauben ein. Damit muss jetzt Schluss sein“.
Es ist sicher kein Zufall, dass zwei Blanquisten Polizeichefs werden. Das passt zu dem repressiven Weltbild dieser Gruppe.
Abgesehen von praktischen Maßnahmen fasst die Commune auch grundsätzliche politische Beschlüsse, so den zur Trennung von (katholischer) Kirche und Staat am 2. April. Das ist ein wichtiger und vorwärtsweisender Beschluss (noch heute entstehen weltweit viele Konflikte aus der Vermischung von Religion und Staat). Die freie Religionsausübung wird garantiert. In der Praxis sieht es dann allerdings oft anders aus. Dort wird das Dekret auch zur Unterdrückung vollkommen unpolitischer Geistlicher benutzt.
In der Praxis führt der Beschluss noch zu anderen, ganz praktischen Problemen, da er mit der Enteignung des geistlichen Besitzes verknüpft ist. Viele soziale Dienste und großteils die Krankenpflege werden von Ordensleuten versehen. Wer soll sie ersetzen?
Und ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass in Paris fast die Hälfte der Grundschulen von geistlichen Orden betrieben werden. Die Commune tritt für die allgemeine Schulpflicht ein, die es zu der Zeit in Frankreich noch nicht gibt. Der Unterricht soll kostenlos sein und frei von religiöser Beeinflussung. Die vollständige Umsetzung dieses Programm ist innerhalb der 2 Monate, die der
Commune zur Verfügung stehen, nicht möglich. Anfang Mai wird aber immerhin die erste Berufsschule eingerichtet.
Neben der freien Religionsausübung hat die Commune beziehungsweise das Zentralkomitee der Nationalgarde auch die Pressefreiheit garantiert. Aber auch hier wird der Beschluss im Laufe des April und Mai immer mehr infrage gestellt. Der „bürgerlich-liberale“ Figaro und der kaisertreue Gaulois werden gleich zu Beginn verboten, was nachvollziehbar ist, da die beiden Blätter direkt Front gegen die Commune und Stimmung für die Versailler Regierung machen.
Aber im Laufe der sich zuspitzenden Lage folgen dann noch viele weitere Verbote.
Militärisches
Einer der ersten Beschlüsse des Zentralkomitees nach dem 18. März ist die Abschaffung des stehende Heeres und die Einführung der Volksbewaffnung.
Die Regierung Thiers lässt keinen Zweifel daran, dass sie versuchen wird, die Commune zu vernichten, sobald sie die Mittel und Möglichkeiten dazu hat. Einstweilen verfügt sie aber gerade mal über 40 000 Soldaten gegen ungefähr 300 000 Angehörigen der Nationalgarde in Paris; wobei die Nationalgarde eben aus dem bewaffneten Volk besteht. Das heißt, sie besitzt wenig militärische Organisation und Erfahrung und ist deshalb den regulären Einheiten der Versailler Regierung kaum gewachsen. Auf jeden Fall wartet die Regierung in Versailles erst einmal ab, wohl wissend, dass die Zeit für sie arbeitet.
Die deutschen Besatzer verhalten sich zunächst neutral. Der Oberkommandierende der deutschen 3. Armee, die im Nordosten der Stadt stationiert ist, versichert der Commune, dass sich die deutschen Truppen vollständig friedlich und passiv verhalten werden. Voraussetzung sei, dass die Ausführung der Bestimmungen des Vorfriedens nicht behindert und deutsche Truppen nicht gefährdet würden.
Anders handelt die deutsche Führung in Berlin. Bismarck lässt im Laufe des April und Mai viele französische Kriegsgefangene frei und schickt sie zur Unterstützung der Regierung Thiers nach Versailles.
Anfang April entschließt sich die Commune, eine Offensive gegen Versailles zu beginnen. Sie scheitert, und was danach kommt, gibt einen Vorgeschmack auf das Kommende. Die Versailler Militärs scheuen sich nach dem zurückgeschlagen Angriff der Commune auf die westlichen Pariser Vororte Courbevoi und Neuilliy nicht, Gefangene zu erschießen. Eine belgische Zeitung berichtet, in Versailles höre man nur von Einheiten, die keine Gefangenen machen. Offiziere rühmten sich, sie hätten verwundete Aufständische in die Seine werfen lassen.
Insgesamt bekommt die Nationalgarde vom 18. März bis Ende Mai 5 verschiedene Chefs. Zunächst wird Charles Lullier mit dem Amt betraut, ein schwerer Alkoholiker, der nach wenigen Tagen wegen Unfähigkeit abgesetzt und inhaftiert wird. Als Nachfolger wird der Blanquist Èmile Eudes als Kriegsdelegierter gewählt. Nach der gescheiterten Offensive gegen Versailles
folgt der Militär Gustave Paul Cluseret, der wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Unfähigkeit vom Rat abgesetzt wird. Sein Nachfolger wird der Militär Louis Rossel. Er tritt am 9. Mai zurück, nachdem am Tag zuvor das wichtige Fort Issy im Süden der Stadt an Versailles gefallen ist. Daraufhin wird der Neojakobiner Charles Delescluze als 'ziviler' Kriegsdelegierter gewählt, obwohl er keine militärische Erfahrung hat. Er führt die Kommune in ihr „letztes Gefecht“ und stirbt am 25. Mai auf einer Barrikade.
Ein Ende mit Schrecken
Bis Mitte Mai erobern die Versailler eine Festung nach der anderen und arbeiten sich so langsam an die Mauern der Stadt heran, die Paris im Westen und Süden umgeben (im Norden und Osten sitzen die deutschen Besatzer in den Forts).
Der 21. Mai ist ein strahlender Frühsommertag. In den Tuilerien vergnügt sich eine entspannte Menge bei Musik. „Es mochten leicht zwölftausend und mehr Personen zugegen sein, alles ging soweit ordentlich zu, wenn man von einigen Arrestationen absieht“, schreibt der deutsche Korrespondent Gustav Schneider. Die friedliche und vergnügte Stimmung steht für das, was die Commune hätte sein und werden können, aber schon am Nachmittag endet dieses Idyll abrupt.
Das Stadttor Point du Jour im Westder Stadt ist nicht besetzt – Schlamperei oder Verrat? Auf jeden Fall nutzen die Versailler Truppen die Chance und dringen von dort in die Stadt ein.
Die meisten Nationalgardisten und auch die meisten ihrer Anführer kämpfen jetzt tapfer bis zur Selbstaufgabe, darunter sind auch viele Frauen. Aber sie sind den regulären Einheiten der Versailler Regierung nicht gewachsen.
Am Ende kommt es in der „Blutigen Woche“ noch zu Übergriffen und Grausamkeiten vonseiten der Commune. Kommunarden stecken viele öffentliche Gebäude und auch einige Privathäuser in Brand, um den Eindringlingen den Weg zu versperren.
Schließlich werden im Laufe der Kämpfe auch rund 70 Geiseln erschossen, Geistliche, darunter der Erzbischof von Paris, und Gendarmen, die von der Regierung Thiers zurückgelassen wurden und schon im März inhaftiert worden waren.
Die Geiselerschießungen erfolgen aufgrund des Geiselerlasses vom 6. April, der vom Justizdelegierten Eugène Protot ausgearbeitet worden ist, unterstützt durch den Delegierten für öffentliche Sicherheit Raoul Rigault. Beide sind Anhänger von Louis-Auguste Blanqui.
Der Rat der Commune hat dem Entwurf damals unter dem direkten Eindruck der Erschießung von Gefangenen durch die Militärs der Versailler Regierung nach der Niederlage bei Courbevoie und Neuilly zugestimmt.
Aber beide Maßnahmen tragen nicht dazu bei, die Gegner der Commune zu schwächen. Es sind terroristische Akte, die deutlich die Handschrift der
Blanquisten und Neo-Jakobiner tragen. Ihre einzige Wirkung ist, den Gegnern der Commune ideologische Munition zu liefern.
Am 28. Mai siegen die Truppen der Versailler Regierung. Und was jetzt folgt, steht in keinem Verhältnis zu dem, was an Gewalt von der Commune ausging. Die Versailler Militärs rächen sich an den Kommunarden und im Grunde an der ganzen Stadt durch ein beispielloses Massaker an Männern, Frauen und sogar Kindern. Der deutsche Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm beschreibt es als „genozidale politische Säuberungsaktion, die der revolutionären Hauptstadt auf Jahre hinaus das Rückgrat [bricht].“
Wie viele Kommunarden von den Versailler Truppen abgeschlachtet werden, wie viele Frauen und Kinder drunter sind, wird wohl nie aufgeklärt werden. Die Schätzungen gehen von 7 000 bis weit über 20 000. Tausende werden inhaftiert – auch da gehen die Schätzungen auseinander. Die meisten Historiker gehen von mindestens 35 000 Gefangenen aus, die zu einem großen Teil nach Neukaledonien im Südpazifik deportiert werden, 1000 km östlich von Australien.
Im August findet in Versailles der erste Prozess gegen 17 Führer der Commune statt. Am 2. September werden die Urteile verkündet: Das Ergebnis: Zwei Todesurteile, 2 Freisprüche der Rest lange Haftstrafen und Deportationen, viele weitere Prozesse folgen.
Einigen Tausend Kommunarden gelingt die Flucht ins Exil.
Offene Fragen
Was war die Commune und warum ist sie gescheitert?
Über beide Fragen wird seit ihrem Untergang heftig diskutiert und gestritten. Der Publizist Sebastian Haffner schreibt „Die Pariser Kommune ist die Inspiration fast aller Revolutionen geworden, die das 20. Jahrhundert erschüttert haben. Man könnte sagt: das 20. Jahrhundert begann am 18. März 1871 in Paris“.
Viele Linke, auch Karl Marx und Friedrich Engels, waren und sind wohl noch der Auffassung, dass vor allem zwei „Fehler“ der Commune Ursachen für das Scheitern waren: Das Zögern der Nationalgarde, die Regierung von Adolphe Thiers und deren Truppen schon am 19. März nach Versailles zu verfolgen und die Schonung der Banque de France.
Beide Argumente sind bestimmt nicht von der Hand zu weisen, aber die Frage ist doch, wären die Kommunarden überhaupt in der Lage gewesen, sich in diesen Fragen anders zu verhalten, als sie es getan haben?
Zunächst fühlten sich die meisten Kommunarden für Paris verantwortlich, nicht für das ganze Land. Eine Minderheit dachte anders und wollte die Offensive gegen Versailles schon gleich am 19. oder 20. März. Da war das Militär der Regierung Thiers noch sehr schwach - vielleicht wäre die Commune zunächst erfolgreich gewesen, aber auch auf Dauer?
Bei der nationalen Wahl Anfang Februar hatten die Monarchisten 400 von 645 Sitzen bekommen, dazu kamen noch die konservativen Bürgerlichen. Paris war nicht Frankreich, selbst wenn man zu Paris noch die aufmüpfigen südfranzösischen Städte hinzu nimmt. La France profonde war tiefschwarz und nicht rot. Dieses Frankreich hätte aller Wahrscheinlichkeit nach einen Sieg der Commune nicht hingenommen; ganz bestimmt hätte aber das siegreiche Preußen-Deutschland die Commune nicht toleriert. Eine Gegenoffensive wäre unausweichlich gekommen. Und ob die ungeübten Nationalgardisten dann hätte standhalten können, ist mehr als fraglich.
Was die Bank angeht, steht erst einmal die Frage im Raum, ob eine Enteignung durch die Commune sinnvoll gewesen wäre, wenn man daran denkt, dass sie auf Kredite angewiesen war. Aber grundsätzlich war es einfach so, dass viele Kommunarden keine Sozialisten waren und das Privateigentum nicht grundsätzlich antasten wollten.
Das führt gleich zur nächsten Frage: Was war die Commune? Sie war auf jeden Fall nicht die Diktatur des Proletariats, was Friedrich Engels im Vorwort von 1891 zum Aufsatz von Karl Marx „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schreibt. Marx selbst verwendet in dieser Schrift, in der er sich intensiv mit der Commune auseinandersetzt, den Begriff übrigens nicht; ich denke aus gutem Grund.
Also was war die Commune? Sie war ein Akt der Selbstermächtigung eines großen Teils der Pariser Bevölkerung, und zwar desjenigen Teils, der nicht über Vermögen oder hohe Einkommen verfügte. Diese Leute nahmen an den
öffentlichen Angelegenheiten Anteil und wollten über sie mitentscheiden, an ihnen in ihrem Interesse mitarbeiten. Das beweisen die vielen Initiativen, die aus den verschiedensten Komitees und Clubs hervorgingen, die damals wie
Pilze aus dem Boden schossen und in denen über die kleinen und großen Fragen der Politik diskutiert wurde. Und die zusammen mit dem Zentralkomitee der Nationalgarde entschlossen waren, darauf zu achten, dass ihre Auffassungen und Interessen von den von ihnen gewählten Abgeordneten auch vertreten werden.
Diesen Charakter der Commune als Initiative des Volkes zeigt auch die große Bedeutung, die Frauen in ihr hatten, auch wenn sie leider nicht im Rat der Commune vertreten waren. Immerhin konnten sie den Beschluss der Commune durchsetzen, dass Männer und Frauen den gleichen Lohn bekommen müssen – eine Forderung, die heute, nach 150 Jahren, immer noch nicht erfüllt ist.
Schließlich noch die Frage: War der Rat der Commune ein Modell für die demokratische Ausübung von Macht? Der Rat war ja Parlament und Regierung in einem und wurde deshalb oft als Vorbild für eine Rätedemokratie bezeichnet. Gerade dieses Modell hat aber in der Praxis nicht funktioniert, weshalb zuerst eine Exekutivkommission gewählt wurde, eine Art Ministerrat ohne Ministerpräsident. Anfang Mai hat der Rat denn einen Wohlfahrtsausschuss gewählt (der Wohlfahrtsausschuss der Revolution von 1789 hatte sich im Laufe des Jahres 1793 zu einem diktatorischen Herrschaftsinstrument entwickelt).
Mitte Mai spaltete sich der Rat dann auch noch in zwei Fraktionen: die Sozialisten auf der einen Seite als Minderheit und die Mehrheit der Blanquisten und Neo-Jakobiner auf der anderen. Die Mehrheit bereitete sich darauf vor, die Minderheit auszuschalten und zu unterdrücken, aber dazu kam es dann nicht mehr.
Was bleibt? Darüber lohnt es sich, intensiv nachzudenken und zu diskutieren. Ich denke, die Erfahrung, dass einfache Menschen ein hoch komplexes System wie eine Millionenstadt am Laufen halten und auch in ihrem Sinne verändern und durch soziale Maßnahmen entscheidend verbessern können. Und dass das sehr gut mit demokratischen Mitteln funktioniert.
Leider hatte die Commune nur 2 Monate Zeit, das zu beweisen. Und leider griff sie gegen Ende zu diktatorischen Mitteln und machte dadurch ihren Versuch fragwürdig, eine Ordnung für und durch die Mehrheit zu errichten. Das lag einmal an den großen Gegensätzen und Problemen im Rat der Commune. Vor allem aber waren die äußeren Bedingungen derart ungünstig, dass sie den positiven Kräften innerhalb der Commune keinen Raum ließen, sich zu entfalten.
20. Mai 2021
Ralf Kröner