1. Salon: Sonntag 04. März 2018, 11 bis 13 Uhr
mit Odile Laufner. Architektin und Stadtplanerin aus Stuttgart, im Gespräch mit Philippe Revault, Architekt und Urbanist aus Paris
Simultanübersetzung: Catherine Gebhardt-Bernot
Einführung des Moderators Ralf Kröner:
Nach der Begrüßung der Gäste berichtet der Moderator Ralf Kröner, dass die beiden Stadtplaner am Vortag zur Vorbereitung des Salons und zur Information unseres französischen Gastes einen kurzen Rundgang in der Stuttgarter Innenstadt
durchgeführt hatten, der auch einen kurzen Blick auf die Bautätigkeiten von Stuttgart 21 umfasste.
Zur Einführung in das Thema führt er weiterhin aus, dass das Thema Stadtplanung für alle großen Städte ein existenzielles Thema sei; für Stuttgart aber ganz besonders. Das liege zunächst an der topographisch herausfordernden Lage in einem Talkessel und dann sei Stuttgart aber auch Standort einer unglaublich dynamischen Autoindustrie, in der zwei internationale Automobilkonzerne ihren Hauptstandort haben. Das sei bestimmt ein Grund dafür, dass Stuttgart schon lange Hotspot des Konzepts der autogerechten Stadt ist, obwohl die Stadt bedingt durch ihre topographische Lage ja eigentlich für breite Autostraßen nicht besonders geeignet sei.
In den letzten 10 Jahren habe Stuttgart dadurch Aufsehen erregt, dass dort aus einem großen alten Kopfbahnhof ein neuer Durchgangsbahnhof gemacht werde. Er denke, dass ihm niemand widersprechen werde, wenn er sage, dass Stuttgart 21 nicht nur, wahrscheinlich nicht einmal hauptsächlich ein Verkehrsprojekt sei, sondern vor allem ein riesiges Immobilenprojekt. Auf jeden Fall beeinflusse es die gesamte
Stadtplanung in ganz großem Maße.
Auch sei die Stuttgarter Innenstadt einer der Orte in der Bundesrepublik, der die schlechteste Luft habe, weswegen das Bundesverwaltungsgericht in der vorhergehenden Woche entschieden habe, dass Fahrverbote zulässig seien.
Schließlich herrsche in der Stadt inzwischen Wohnungsnot. Der soziale Wohnungsbau sei im Prinzip eingestellt worden, Wohnungen, die in der öffentlichen Hand waren, seien privatisiert worden, und die Mieten ins Unbezahlbare gestiegen.
Zum deutsch-französischen Aspekt führt er folgendes aus:
Die Stuttgarter Innenstadt sei im 2. Weltkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber nach dem Krieg sei es mit der Zerstörung weiter gegangen. Anstatt wiederaufzubauen, wurden vielerorts Gebäude ganz abgerissen. Heute befänden sich dort statt historischer Gebäude Straßen, Verkehrsbauwerke und Geschäftshäuser.
Das sei in den meisten französischen Städten anders: Erstens natürlich, weil dort die meisten historischen Innenstädte glücklicherweise nicht zerstört wurden. Dann aber auch, weil es in Frankreich seit 1962 die Loi Malraux gäbe. Dieses Gesetz, das den Namen des Kulturministers unter De Gaulle André Malraux trage, bestimme, dass es möglich sei, ganze Stadtviertel zu schützen, und zwar nicht nur historische, sondern auch solche, die einen besonderen ästhetischen Charakter besäßen, oder aus sonstigen Gründen erhaltenswert seien. Entsprechende Vorschriften hätte es in Deutschland erst viel später gegeben. Denkmalschutz sei in Deutschland Ländersache, und schon der Begriff Denkmalschutz zeige, dass man nicht an ganze Ensembles, Stadtviertel denke, in denen Menschen leben. Auf Französisch würde es Création des secteurs sauvegardés – Schaffung von geschützten Bereichen heißen.
Seit der Loi Malraux habe sich natürlich unglaublich viel verändert, aber dies mache doch deutlich, dass sich der Blick über den Rhein lohnen würde, und natürlich nicht nur bezüglich historischer Stadtviertel, sondern auch in Bezug auf neue Projekte.
Zum Abschluss der Einführung bittet Ralf Kröner die Gäste, zunächst einmal von einem Problem, einer Aufgabe zu berichten, die sich ihnen in der letzten Zeit gestellt habe.
Impulsvortrag von Odile Laufner:
Frau Laufner hat früher im Deutsch-Französischen Jugendwerk in Trier gearbeitet, der eine große Tradition im Kulturaustausch besäße. Sie ist heute seit einigen Jahren in Stuttgart als Stadtplanerin tätig und z. B. auch Mitglied der Initiative „Architektinnen für Stuttgart“.
Seit dem in der Öffentlichkeit umstrittenen Projekt Stuttgart 21 habe Stuttgart eine Diskussionskultur entwickelt, die schließlich zu einem Volksentscheid in Baden-Württemberg über das Stuttgarter Tiefbahnhofsprojekt mit dem Ergebnis für den Nichtausstieg aus dem Projekt führte.
Bezogen auf die Stadtplanung der Stadt Stuttgart würden übergeordnete Ziele fehlen. Eins der Beispiele des daraus folgenden bürgerlichen Engagements ist die Bürgerinitiative „Aufbruch Stuttgart“, die die städteplanerischen Fragen um die sogenannte Kulturmeile aufwerfe. Diese Initiative stelle jedoch kein demokratisch gewähltes Gremium dar. Die Frage sei jedoch generell „Wohin will die Stadt?“ Diese
Frage bewege sich im Spannungsfeld von Mobilität und sozialem Ausgleich (ein weiteres Beispiel hierfür sei der Busbahnhof, den man an die Peripherie verlegen wolle.).
Andere Städte, wie z.B. Zürich und Kopenhagen hätten ihre Zielrichtung festgelegt, für Zürich habe der öffentliche Verkehr Vorrang, für Kopenhagen der Fahrradverkehr. In Stuttgart müsse die Diskussion „Wem gehört die Stadt?“ noch geführt werden. In dieser Frage sei auch der Gemeinderat gefordert.
Impulsvortrag von Philippe Revault:
Philippe Revault ist Architekt und Urbanist aus Paris. Er war Experte der UNESCO beim Wiederaufbau von Haiti und war z.B. als Urbanist für die Städte Aix en Provence und Avignon tätig.
Er betont zu Beginn seiner Ausführungen, dass Frankreich im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland ein „Pays centralisateur – ein zentralistisch geführtes Land“ sei. Das würde auch am Beispiel der Stadt Paris deutlich werden. Es habe nämlich 105 Jahre gedauert, nach der Commune de Paris 1871, um die Angst vor „lokalen Entscheidungen“ zu überwinden. Erst seit 1977 hat Paris wieder einen gewählten Bürgermeister, vorher bestimmte ein von der Regierung eingesetzter Präfekt die Geschicke der Stadt.
Diese zentralistische Verfahrensweise führte in vielen Städten zu einer „situation urbaine de grande vulnérabilité – einer urbanen Situation großer Verwundbarkeit“, siehe die Gründungen der „villes nouvelles – neue Städte“ neben alten, traditionell gewachsenen.
Erst unter Francois Mitterand und Gaston Déferre mit dem Gesetz zur „Décentralisation“ in den 80er Jahren brachte eine totale Veränderung. Die „démocratie locale“ sei also eine recht junge Erfahrung, die einen Wechsel in den Mentalitäten erforderte und diesen allmählich mit sich brachte.
„Man beherrscht nicht mehr, sondern man begleitet die regionalen und/oder lokalen Entscheidungen.“
An einem Beispiel der Planung des Palais de Justice von Cergy-Pontoise, einer Kommune mit einem alten Stadtkern und einer „ville nouvelle – einem neuen Stadtteil“, führte Philippe Revault diesen Umdenkungsprozess vor Augen. Die gewählten Vertreter von Cergy und Pontoise hätten vor allen Dingen die „contraintes“, also die Sachzwänge, gesehen, und nicht die Möglichkeit einer Wahl.
Ein Stadtrat des rechten Flügels hätte das angeblich damals begriffen, aber der sozialistische Bürgermeister zuerst nicht. Nach längeren Diskussionen ließ er sich jedoch von einem Konzept überzeugen, dass die Altstadt von Pontoise erhielt und ihre neue Funktionen zuordnete.
So werde deutlich, dass die lokale Demokratie eine Dynamik schaffen könne, die eine Vision über lange Zeiträume und einer Veränderung und Umgestaltung einer Stadt, der alten Stadt Pontoise und der „nouvelle ville“, also die Betrachtung der Gesamtheit erfordere.
In der anschließenden Diskussion wurden auf Fragen des Publikums folgende Standpunkte vertreten und lebhaft diskutiert:
- Odile Laufner: Erst die Pläne um Stuttgart 21 hätten die Diskussion um die Stadtplanung in die Politik und die öffentliche Diskussion gebracht. Ein wichtiges Element sei es, Alternativen zu entwickeln und zu diskutieren. Ein Bahnhof müsse alle Verkehrsarten in einer Stadt bündeln können. Ein Tunnel sei zu starr und unflexibel.
- Philippe Revault: Seit dem Jahr 2000 und mit dem Gesetz von 2014 „Solidarité et Renouvellement Urbain – Solidarität und städtische
Erneuerung“, dem „PLU – Plan Local d’Urbanisme“ und anderen Gesetzen oder Plänen wie „ALUR – Accès au Logement pour un Urbanisme Renové“ seien die Prozesse der Stadtplanung völlig geändert worden. Eine demokratische Debatte sei nun vorgeschrieben. Mehrere Gemeinden müssten nun einbezogen werden (intercommunale). Die Idee einer gemeinsamen Vision (intercommunale) sei das Ziel.
Auf zahlreiche Fragen wie in Frankreich die Bürger bei dieser Debatte beteiligt würden, wie das Spannungsfeld zwischen öffentlichem und privatem Grund und Boden sei und wie hoch z. B. der Anteil des sozialen Wohnungsbaus sei, antwortet Philppe Revault: Es gehe um eine Debatte der Ideen. „Welches ist die beste Idee?“ Die Art und Weise, wie man in ein Projekt „einsteige“, bestimme seine Zukunft. Eine lediglich „technische“ Debatte sei kontraproduktiv und müsse dabei vermieden werden. Der französische Staat würde definieren, wie hoch die „nationale Solidarität“ festzulegen sei. Für den sozialen Wohnungsbau betrage dieser Wert mindestens 25%. Der „espace public - öffentliche Raum“ gehöre zum „bien commun – Gemeinwohl“, der privatwirtschaftlichen Interessen entzogen sei.
März 2018
Jörg-H. Rössig